Glaube und Mythos im Gedicht Uwe Lammlas

Einleitung

Uwe Lammla hat in beiden deutschen Staaten und damit in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen gelebt und empfindet auch dieses jetzige Deutschland als unbefriedigend. Neben dem ihn prägenden christlichen Glauben, durchdringt seine Lyrik das Spiel mit mythologischen Figuren und Andeutungen. Hier beweist sich Lammla als Kenner der Materie und Jahrhunderte alter Traditionen.
Der trotz seines umfangreichen lyrischen Werkes immer noch relativ unbekannte Dichter orientiert sich an den Stoffen und dem Stil der Romantik, um die Gegenwart künstlerisch zu verarbeiten.
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht neben einem allgemeinen Überblick über Leben und Werk sowie der Beschreibung einer methodischen Annäherung, die Verwendung mythologischer, in diesem Zusammenhang auch biblischer Stoffe.


Leben und Werk

Uwe Lammla hat in drei Büchern sieben Gedichtsammlungen veröffentlicht, und drei weitere in Arbeit. Auch wenn zwischen dem Leben und dem Werk eines Schriftstellers erwiesenermaßen kein linearer und direkter Zusammenhang besteht, so ist doch nicht zu leugnen, daß Erlebnisse und Ereignisse unterschiedlicher Intensität die Gefühlswelt eines Menschen und damit den kreativen Schaffensprozeß des Künstlers beeinflussen. Deshalb werden im Folgenden die biografischen Eckdaten des Lyrikers gemeinsam mit den im entsprechenden Zeitraum entstanden Gedichtsammlungen tabellarisch und kommentiert dargestellt. Eine ausführliche subjektive biografische Rückschau liegt mir vom Dichter maschinenschriftlich vor.
Uwe Lammla wurde am 21. Januar 1961 im ostthüringischen Neustadt an der Orla als Sohn eines Betontechnologen (Ingenieur) und einer als Großhandelskaufmann in einem sozialistischen Maschinenbaubetrieb berufstätigen Mutter geboren und wuchs auf einem idyllischen Bauernhof mit bescheidener Viehzucht (Hühner und Schafe) und einem schönen Gemüsegarten auf. Die Beschreibung seiner Kindheit zeichnet sich durch fast alle der Epoche der Romantik zuzuschreibenden Attribute wie Sinnlichkeit, Abenteuer und Hingabe zur Natur aus, wenn er schreibt, daß es für ihn damals selbstverständlich war, "immer mit Freunden oder mit Hund in der Natur unterwegs zu sein, auf Felsen zu klettern, Baumhäuser zu bauen, Feuer zu machen und »Banden« zu gründen." Seine während der Pubertät entstandenen ersten schriftstellerischen Texte, sind – auf die Erlebnis- und Gefühlswelt seiner Kindheit aufbauende "Abenteuergeschichten von Räubern, die immer rauben, wenn sie nicht gerade den Erfolg feiern oder im Gefängnis sitzen, und ihren Jägern".
Nach Beendigung der 10klassigen Polytechnischen Oberschule, bot sich dem am Fach Chemie interessierten Jugendlichen die Gelegenheit, an den 90 Kilometer von seiner Heimatstadt entfernte Spezialklassen für Chemie der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg die Hochschulreife zu erwerben. Hier lebte er in einem zum größten Teil von den Schülern selbst verwalteten Internat, wo auch seine ersten lyrischen Versuche "im Zusammenhang mit Popmusikproduktionen" entstanden.
Seine Jugend beschreibt Lammla als rebellisch und im Widerspruch zu bzw. der Abwendung von (staatlichen) Autoritäten, wie folgende Zitate seiner Autobiografie belegen:
"[Uwe Lammla] … zeigte schon damals wenig Lust, für eine Seite Partei zu ergreifen…; [es gab] … erste Probleme mit den Behörden …, die in damaliger Zeit mit »Uneinsichtigkeit gegenüber gesellschaftlichen Erfordernissen« umschrieben wurden …; [der zehnjährige Lammla wurde] … bei einem Rezitationswettbewerb … nach seinem Vortrag des Goetheschen »Zauberlehrlings« von der Jury extrem boshaft beschämt…"
Lammla entscheidet sich nach bestandenem Abitur zum Entsetzen der Schulleitung und seiner Eltern gegen eine Karriere in der chemischen Industrie und strebt ein – in sozialistischen Zeiten eher unerwünschtes und karriereschädliches –, aber seinem Interesse für philosophische und theologische Fragestellungen entgegenkommenden Theologiestudium am Sprachenkonvikt (kirchliche Hochschule) in Naumburg an, läßt sich auf Intervention seiner Eltern aber dazu überreden, erst den üblichen Pflichtwehrdienst in der NVA zu absolvieren, um anschließend an einer staatlichen Hochschule Theologie zu studieren. Diesen Kompromiß beschreibt Lammla "im Nachhinein als seine vollständige Niederlage", der Dienst in der NVA "endete nach wenigen Monaten in der Psychiatrie und schließlich in der Entlassung", seine Bewerbungen zum Studium wurden abgelehnt. Lammla beginnt eine Buchhändlerlehre
Fliederblüten (1981): "Die Gedichte sind einer Poetik verpflichtet, die ihren Ursprung bei Novalis hat und im zwanzigsten Jahrhundert bei Dichtern wie Rilke, Trakl oder Celan Gestalt gewann. Sie sind ein erster Versuch, expressive Stimmungsbilder mit strenger Versform zu vereinen."
Im Alter von 20 Jahren lernt Lammla den elf Jahre älteren Autor Rolf Schilling kennen, der ihn mit Werken bedeutender, aber in der DDR nicht verlegter deutscher Autoren bekannt machte, u.a. Gottfried Benn, Josef Weinheber, Stefan George, Karl Wolfskehl und Horst Lange. Zudem pflegte Schilling einen regen Briefwechsel zu einigen in Westdeutschland lebenden Schriftstellern, wie Oda Schaefer, der Ehefrau Horst Langes, dem im Jahr 1982 gestorbenen Fritz Usinger sowie zu Ernst Jünger. Die entstehende Dichterfreundschaft beeinflußte nicht nur entscheidend Lammlas poetisches Werk und sein Wissen über die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, sondern ermutigte ihn auch, "seiner traditionellen und geistigen Orientierung, die allgemein belächelt wurde, treu zu bleiben."
Mit 23 Jahren verliebte sich Lammla in den gleichaltrigen Schriftsteller und Fotografen Thomas Roßbach, der als einer der wenigen Arbeitslosen in der DDR außerhalb der sozialistischen Gesellschaft, und damit perspektivlos in einem Zustand von innerer Zerrissenheit lebte. Lammla selbst vergleicht diese leidenschaftliche homosexuelle Beziehung mit der antibürgerlichen und bohèmehaften Liebe zwischen Arthur Rimbaud und Paul Verlaine, und thematisiert sie – wie auch Verlaine – in seinen Gedichten. Aufgrund extremer und bewußt kalkulierter Provokationen wird Roßbach Ende 1983 verhaftet. Lammla kann bereits im März 1984 nach München ausreisen. Zuvor hatte er seine Stelle gekündigt "und alle Konten aufgelöst hatte, um sich ausschließlich dem Ruin seines Rufs zu widmen."
Ende des Jahres kommt auch Roßbach durch Freikauf in die bayrische Hauptstadt, doch die Beziehung beginnt schon nach ein paar Monaten des Zusammenlebens zu bröckeln.
Gefangener Schwan (1984): Die thematischen Hauptlinien "Schau und Deutung mythischer Gestalten, Landschaften der Seele, Initiationsreisen nach dem Muster der Gralslegenden, Variationen in Analogie zu kosmischen Zahlen und Kreisläufen und Maximen der geistigen Selbstbehauptung in heutiger Zeit" werden auch in diesem zweiten Gedichtband, der zusammen mit "Fliederblüten" in einem Band herausgegeben wurde, bereits erkennbar.
Die Begegnungen zwischen Roßbach und Lammla werden in den folgenden Jahren unregelmäßiger, bleiben trotz allem von Leidenschaft geprägt. Thomas Roßbach begeht 1990 Selbstmord. Lammla entwickelte sich in den vergangenen Jahren trotz räumlicher Trennung zum Adepten und Unterstützer Schillings und entschließt sich, als er auch in Westdeutschland keinen Verlag für den Dichterfreund gewinnen kann (Lammla spricht von "Weigerung"), dessen Werke in einem selbst gegründeten Verlag zu publizieren, was aber im ersten Anlauf an finanziellen Schwierigkeiten scheiterte. Nach dem Fall der Mauer 1989 fand Lammla Gelegenheit in Sachsen-Anhalt, und so können auf dem traditionellen Treffens zu Nietzsches Todestag in Röcken dann endlich die ersten sieben Schilling-Bände des Herausgebers Uwe Lammla präsentiert werden.
Weckruf und Mohn (1988) "besteht zu großem Teil aus Neufassungen älterer Entwürfe, die in Versen strengster formaler Fügung und hermetischer Dichte realisiert wurden."
Seerosenritter (1990) enthält ein in 22 Verse gegliedertes Epos über die Große Arkana des Tarot (22 Trumpfkarten; lat. arcanum, "das Eingeschlossene", i.S. eines nur dem Eingeweihten zugänglichen Geheimnisses) und nimmt mit einer langen Adaptation von Shelleys "Adonais" Abschied vom Geliebten Thomas Roßbach. »Amalthea« thematisiert den "Untergang des Goldenen Zeitalters der Titanen und damit die tragische Seite des »Himmels des Zeus«" – ein Motiv, das für Lammlas weiteres Werk bestimmend bleibt.
Zu Beginn der 90er Jahre versucht Lammla gemeinsam mit zwei weiteren befreundeten Männern, die Wandervogeltradition in Deutschland wieder zu beleben. Die 1896 entstandene Bewegung "Wandervogel" gilt historisch als gilt als Anfangspunkt der deutschen Jugendbewegung. Angeregt durch die Ideale der Romantik, organisierten sich zu dieser Zeit viele Jugendliche und junge Erwachsene selbst Wanderungen, um vor dem herrschenden autoritären gesellschaftlichen Druck in die Natur flüchteten und dort ihr Leben nach eigenen Überzeugungen zu gestalten. Lammlas Fahrten durch den Schwarzwald, an Rhein und Bodensee, durch den Harz und über Danzig, Helsinki und Reval zu den estnischen Ostseeinseln und über Memel und Potsdam zurück, finden ihren künstlerischen Ausdruck in den Gedichtbänden dieser Zeit:
Der weiße Falter (1992), Heliodromus (1993) Traum von Atlantis (1994).
1995 gründet Lammla Buchhandlung in Münchener-Schwabing gemeinsam mit Christine Bauer eine Fachbuchhandlung mit den inhaltlichen Schwerpunkten Psychologie, Pädagogik und Unternehmensführung. Dort lernte Lammla den 1947 in Paris geborenen und in München lebenden Bildhauer Serge Mangin kennen, der ihn fasziniert und seine Dichtung beeinflußt. Eine in Arbeit befindliche Sammlung bedichtet Sparta und Kreta, und Serge Mangin will die Gedichte mit farbigen Aquarellen illustrieren. In den zwei weiteren unvollendeten Sammlungen konzentrieren sich die Themen auf das Christentum und auf die deutsche Nation. Hier darf man gespannt sein.
Der Lebenslauf Uwe Lammlas zeigt, daß der Dichter seit seiner frühen Jugend im Widerspruch zu der ihn umgebenden Gesellschaft lebt. Diesen Zwiespalt des – in welcher Gesellschaftsordnung auch immer – Ausgeschlossenseins und auch des Ausgeschlossenwerdens versucht Lammla in seinen Gedichten zu verarbeiten.
Dabei orientiert er sich nicht allein an der Dichtung, sondern auch an seinem tatsächlichen Leben und an der Biografie einiger Autoren, die ihm als Vorbild und Lebensentwurf dienen. Romantische Männerbünde, homoerotische Liebe, Wandervogelbewegung, Naturverbundenheit und die Leidenschaft für zu Mythen und Legenden spiegeln sich in seinen Verse wieder und verschmelzen so Realität und Phantasie auf künstlerische Weise.
Durch seine den Gedichtsammlungen vorangestellte Verse anderer Schriftsteller sowie diverse Widmungen, weist Lammla selbst auf diese Synthese hin.


Zur Methodik

Um einen repräsentativen und zu analysierenden Querschnitt von Lammlas Dichtung zu erhalten, wurde auf der Suche nach einer ersten Auswahlmethodik Textdateien der gedruckten Bücher durchsucht. Dabei wurde die Häufigkeit bestimmter Wörter festgestellt. Man erhält ein erstes quantitatives Ergebnis, das selbstverständlich noch nichts nicht über die Qualität der verwendeten Begriffe und den eventuell existierenden semantischen Zusammenhang aussagt, aber bereits auf die Fokusierung auf bestimmte Begriffe im lyrischen Schaffen des Dichters verweist. Im Folgenden werden die Schritte zur Auswahl der im Rahmen der Thematik dieser Arbeit repräsentativ erscheinenden Gedichte vorgestellt.

Indikatoren

Im ersten Schritt des Auswahlverfahrens wurden Indikatoren für mythische und religiöse Themen festgelegt. Als Indikatoren sind solche Wörter zu verstehen, die sowohl
- nach einer ersten intensiven Beschäftigung mit dem Werk des Dichters als in verschiedenen Variationen wiederholt thematisierten Zusammenhängen augenscheinlich wurden, und
- sowohl in der Mythologie als auch im Christentum eine (mitunter konträre) Bedeutung haben.
Die Wahl der Termini erfolgte zügig und intuitiv in Anlehnung an die von Osborn und Clark erfundene bzw. weiterentwickelte Methode des Brainstorming ("using the brain to storm a problem", d.h. wörtlich: "Das Gehirn verwenden zum Sturm auf ein Problem"), um eine erste quantitative Selektion vorzunehmen. Als im weitesten Sinne religiös-immanente Begrifflichkeiten wurden die Wörter Gott, Götter, Engel und Glaube, als Symbole der Mythologie bzw. des Volksglaubens die Wörter Linde, Drachen, Faun, Schwan und Schlange festgelegt.

Gott / Götter / Glaube

Die Begriffe Gott bzw. Götter stehen in ihrer allgemeinen Konnotation "als Gattungs- oder Sammelbegriff für transzendente (d.h. die empirische, verstandesmäßig erfahrbare Welt übersteigende) Mächte, die religiösen Glaubenssätzen zufolge ihrerseits Einfluß auf das Leben in der für uns erfahrbaren Welt nehmen." Sowohl von den traditionellen Religionswissenschaften als auch im allgemeinen Sprachverständnis wird das Wort Gott im Zusammenhang mit einer monotheistischen (vor allem Judentum, Christentum und Islam), der Begriff Götter in Verbindung mit polytheistischen Religionen (Religionen der Antike sowie traditionelle Volksreligionen der Vergangenheit und Gegenwart) verwendet. Die meisten historischen polytheistischen Religionen werden als Mythologie bezeichnet. Der Dichter Uwe Lammla beschäftigte sich neben dem biblischen Kanon vor allem mit den griechischen und römischen Göttern der Antike sowie der germanischen Mythologie. Es bleibt darauf hinzuweisen, daß sich sowohl das Juden- als auch das Christentum von einer ursprünglich polytheistischen zu einer monotheistischen Religion entwickelt haben. Im Alten Testament sind die Spuren des Vielgottglaubens nicht zu übersehen. Dieser Widerspruch ist Lammla durchaus bewußt und ist in seiner Lyrik unterschwellig präsent.

Engel

In der Bibel steht die Funktion der Engel als Boten Gottes im Vordergrund. Sie teilen den Menschen "Gottes Wort, Gegenwart, Absicht und vollgültigen Willen", oft in menschlicher Gestalt, mit, ihr primäres Wesen ist dienend. In der Liturgie, der (vor allem bildenden) Kunst und der Poesie wurde das spartanische biblische Engelsbild dagegen weitschweifig ausgemalt und mit vielen Bedeutungen beladen. Die Engelsfigur symbolisiert den Grenzgänger und wurde zum Sinnbild der homoerotische Liebe.
Als wesentliches Element der jüdisch-christlichen Tradition erscheint die Figur des Engels als Hoffnungsträger, der leidende Engel symbolisiert Hoffnungslosigkeit. Ein in diesem Zusammenhang stehendes Zitat aus dem 1991 erschienenen Aufsatz Uwe Wolffs "Die Wiederkehr der Engel. Boten zwischen New Age, Dichtung und Theologie", welches konkret auf den Dichter Uwe Lammla und seine frühe Lyrik verweist, soll an dieser Stelle die Wahl des Indikators Engel untermauern: "Wie stark das Motiv des Engels die Lyrik der inneren Emigration in der DDR bestimmte, wird nun nach dem Fall der Mauer deutlich. Die jetzt veröffentlichten Gedichte von Uwe Christian Lammla (1989) und Rolf Schilling (1990) durchzieht die Gestalt des Engels. Sie ist Chiffre des Geistes und Widerspruch gegen die sichtbare Welt, sowie der sich jeder Gegenwartssprache entziehende Rückgriff auf traditionelle lyrische Formen."

Linde

In der griechischen Mythologie galt es Gnade der Götter, in einen Baum verwandelt zu werden. So gilt die Verwandlung des Ehepaares Philemon und Baucis nach ihrem Tod in zwei eng umschlungene Bäume (Baucis wurde zu einer Linde, Philemon zur Eiche) als Dank von Hermes und Zeus für die Gastfreundschaft dieser Menschen. Aufgrund ihrer vielen kleinen herzförmigen Blättern galt die Linde in der Antike als Baum der Liebe und war der Liebesgöttin Aphrodite geweiht. Auch die Germanen verehrten in der Linde die Göttin der Liebe und des Glücks. Unter dem Baum der Freya fanden die Thingversammlungen und Gerichtssitzungen der Germanen statt. In der Zeit des Christentums sind aus den zahlreichen Freya-Linden die Maria-Linden geworden. Martin Luther wird häufig mit einem Satz zitiert, der das Wesen der Linde Symbol für die Begegnung mit anderen Menschen und ein Synonym für Begriffe wie Heimat, Wärme und Geborgenheit beschreibt: "Unter den Linden pflegen wir zu singen, trinken und tanzen und fröhlich zu sein, denn die Linde ist uns ein Friede- und Freudebaum." Viele Familien-, Restaurant- und Ortsnamen weisen noch heute auf die Bedeutung der Linde als zentralen Kommunikationsort einer (dörflichen) Gemeinschaft hin.

Drache / Schlange

In babylonische und griechische Mythen, aber auch im Alten Testament (Leviathan) verkörpern Drachen häufig das Chaos und die Mächte der Finsternis, indem sie "das vor der Weltwerdung vorhandene und die geordnete Welt ständig bedrohende Chaos darstellen". Als Sinnbild des Bösen kommt der Drache sowohl in christlichen Legenden (Georg) als auch im altnordischen Sagenkreis (Midgardschlange) vor. In der Apokalypse des Johannes wird die (dem babylonischen Mythos nachempfundene) Drachenlegende benutzt, um die Verfolgung der Kirche darzustellen. Die Bildsymbolik des das Erlöserkind verfolgenden Drachens, bestimmt bis in die Gegenwart hinein die Endzeitvorstellung in Kunst und kirchlicher Lehre. In der biblischen Überlieferung gilt der Drache als Inbegriff des Unheimlichen und steht auch für Satan bzw. die Hölle. Als Schatzhüter erscheint das auch (Lind)wurm genannte echsenartige Fabeltier in der Nibelungen- und vielen anderen Volkssagen Mitteleuropas.
Die Schlange gilt in der Bibel als Symbol des Teufels und Bösen (synonyme Verwendung zu Drachen), der Versuchung und der Falschheit (in der Rolle der listigen Verführerin im biblischen Sündenfall), aber auch der Klugheit. Jesus mahnt: "Seid klug wie die Schlangen ...!"Aus diesem Grunde zieren die Spitze des Bischofsstabs häufig zwei Schlangen (zur Mahnung pastoraler Klugheit). Uroborus, eine Schlange, die ihren Schwanz verschlingt, ist das Symbol für die Ewigkeit. Durch die biologische Eigenschaft der Häutung steht die Schlange auch für Begriffe wie Wandlung und Auferstehung. "Die »eherne Schlange«, die Moses an einer Stange befestigt …, ist ein Heilszeichen und wird im Neuen Testament als Vorausbild des gekreuzigten Christus gedeutet …"
Auch im antiken Griechenland stand die Häutung der Schlange für Wiedergeburt, ewige Jugend und Unsterblichkeit. Zudem galt sie als Beschützerin der Unterwelt und symbolisierte die religiöse Verbindung mit der Erdtiefe.
Schlangen wurden wahrsagende Fähigkeiten zugesprochen, der Äskulapstab, das Wahrzeichen der Apotheker und Ärzte, geht auf die Sage zurück, daß eine Schlange den griechischen Gott der Heilkunst Asklepios auf die Wirksamkeit der unterschiedlichen Heilpflanzen aufmerksam gemacht haben soll. Durch eine Begebenheit im Alten Testament wird die Schlange auch im Christentum zu einem das Symbol der Heilung: "Als das Volk unter einer Schlangenplage litt, richtete Moses auf Geheiß Gottes das eherne Bild einer Schlange auf und rettete damit das Volk vor dem Tod. Ein symbolischer Heilvorgang, der noch bis weit ins Mittelalter in der abendländischen Kunst aufgegriffen wurde." Der römische Äskulap-Kult beruht auf einem Ereignis im Jahre 293 v. Chr., als Asklepios, fortan einer der meist verehrten Götter in der römischen Kaiserzeit, als Retter in der Gestalt einer Schlange erschien.
Im Kontrast zu den genannten Konnotationen stehen Drachen und Schlangen im asiatischen Raum. In Indien werden Schlangen als Nagas (Schutzpatrone des Wassers und der Wolken, aber auch Verursacher von Überschwemmungen oder Dürreperioden) verehrt. Schlangen werden als Helfer Buddhas erwähnt, die ihn beschenken und sich zu seiner Lehre bekennen. Der Drache gilt als Glücksbringer und Sinnbild des männlichen Prinzips.

Faun

Auf den altrömischen Naturgott Faunus (auch als Wolfsgott bezeichnet) und die griechischen Satyrn zurückgehend, sind Faune in der römischen Mythologie lüsterne, sich in Wäldern umtreibende Halbgötter mit Hörnern und Bocksfüßen. Ursprünglich war Faunus der Beschützer der Bauern und Hirten und ein Symbol der Fruchtbarkeit. bekommt aber zusätzlich die Rolle als ein die Menschen erschreckendes Wesen (u.a. durch böse Träume) zugeschrieben. Sein griechischer Gegenpart ist der Gott Pan. Halb Mensch, halb Ziege treten die Schalmei oder Flöte spielenden Faune in Gruppen, in verschiedenen Gestalten und unter vielen Namen auf.

Schwan

Höckerschwäne wurden bereits im antiken Griechenland und Rom als Seelenvögel verehrt. Die Vögel mit dem weißen Gefieder bieten auf dem Wasser einen anmutigen Anblick und strahlen beim Flug in der Luft Kraft und Stärke aus. Nicht von ungefähr also ist der Schwan vor allem ein Sinnbild des Hoheitsvollen. Als Symbol von Eros und Liebe ist der Schwan in vielen Legenden geschildert: Er zog den Wagen der Venus und des Amor, Zeus näherte sich im Schwanen-Inkognito seinen menschlichen Geliebten (z.B. Leda). Kara, die Schwanenkönigin der Walküren, besiegte ihre Feinde in einem ein Kleid aus Schwanenfedern. In Schwäne verwandelte Menschen bzw. (Halb)-Götter in Schwanenkleidung kommen in vielen Märchen und Sagen vor. Themen wie Liebe, Jugend, Alter und Vergänglichkeit werden in der Literatur häufig mit Schwanenmythen geschildert. In der Bibel wird der Schwan durch sein zunehmend weißer werdendes Gefieder zu einem Symbol der Reifung, der Reinheit und der Jungfrau Maria. Der Schwan wurde auch zum Attribut Martin Luthers. Dieser sah sich selbst als der Schwan, mit dem Jan Hus vor seinem Tod den Feinden drohte: "Jetzt werden sie eine Gans [tschechisch "Hus" = "Gans") braten, in 100 Jahren wird ein Schwan singen!"
Lammlas Verhältnis zur lutherischen Lehre ist ein zentrales Motiv seiner Lyrik. Er selbst – von einer "beeindruckenden Pastorin", weniger vom Elternhaus, geprägt – wurde zwar evangelisch-lutherisch getauft und ist "dem Luthertum bis heute im wesentlichen treu geblieben", sieht aber für sich in der Institution der Kirche "keine Heimat mehr." Vor allem in der unvollendeten Gedichtsammlung "Das Jahr des Heils" klingt diese Thematik in vielfältigen Variationen immer wieder an, zum Beispiel bei folgenden Gedichten: Bernhard von Clairvaux, Christos Apollon, Actio spes unica, Pfingsthymnus, Das Jahr des Heils, Lutherisch und Die Zahl der Engel

Quantitative Selektion

Die in Lammlas Gedichten vorkommende Häufigkeit der festgelegten Indikatoren ist im untenstehenden Diagramm dargestellt. Es gilt anzumerken, daß hier lediglich aufgelistet ist, in wie vielen lyrischen Texten bestimmte Indikatoren erwähnt werden, nicht die Häufigkeit der Verwendung bestimmter Wörter insgesamt. Es bietet sich dementsprechend folgende analytische Lesart an: In 13 Gedichten wird das Lexem Faun mindestens einmal verwendet.

Anhand der Grafik wird offensichtlich, daß Gott, Schwan, Engel, Götter und Schlange einen hohen Stellenwert in Lammlas Lyrik besitzen.
Im zweiten Schritt des Auswahlverfahrens wurde die Häufung von Indikatoren innerhalb der bereits selektierten Gedichte miteinander verglichen. Bereits ab einem Vorkommen von drei gewählten Indikatoren innerhalb eines Gedichtes konnte, mit Ausnahme der Sammlung "Tannhäuserland. Zweites Buch" (2007), ein Querschnitt aus dem Schaffen des Dichters gefunden werden:

1981

Fliederblüten

Stunde vor Tag, Amor intelectualis, Eisenach I, Lindenbaum, Inkarnation I

1984

Gefangener Schwan

Engel in Waffen, Traumwind, Der Schläfer, Hermes I, Symbole, Zeitgedicht

1988

Weckruf und Mohn

Zueignung I, Das Gnadenreich II, Einhorn-Sonate, Initialen, Inkarnation II, Weckruf und Mohn II

1990

Der Seerosenritter

Arcana, Enkidus Tod, Die Burg der Gefahren, Die Seeschlange, Die Steilküste, Lanzelots Grab, Der Haselstab-Eid

1992

Der Weiße Falter

Almandin, Das Reisebuch, Hohenwarte

1993

Heliodromus

Heliodromus, Nadir, Vier Blätter, Würfelspiel

1994

Traum von Atlantis

Insel-Sonette, Elysium


Tabelle 1: Gedichtauswahl I
In einem zusätzlichen Schritt wurden drei weitere, den Themenkreisen Lammlas entsprechende Indikatoren in das vergleichende Verfahren aufgenommen: Zeus (griechische Mythologie), Merlin (germanische Mythologie), Orgel (Symbol der christlichen Kirchenordnung und Liturgie).
Ab einer Häufigkeit von drei Indikatoren kommen nun folgende zweit weitere Gedichte in die Auswahl: "Der Bilsengott" (Fliederblüten) und "Sirenen" (Traum von Atlantis)
Die mit dem beschriebenen Verfahren ausgewählten Gedichte (insgesamt 34) sind mit ihren entsprechenden Indikatoren in folgender Tabelle dargestellt. Die Zahlen in den Klammern hinter den Gedichten geben die Häufung der Indikatoren an), die Zahlen hinter den Gedichtbänden weisen auf die Anzahl der Gedichte innerhalb einer Sammlung hin.
Für die genannten Indikatoren wurden in der Tabelle folgende Abkürzungen, aufgezählt in der Reihenfolge ihrer Darstellung, verwendet:
Z = Zeus; M = Merlin; O = Orgel; G = Gott; E = Engel; Gö = Götter; Gl = Glaube; L = Lindenbaum; D = Drachen; F = Faun; Sw = Schwan; Sl = Schlange

 

 

 

Z

M

O

G

E

Gl

L

D

F

Sw

Sl

1981
Fliederblüten (6)

Stunde vor Tag (4)

     

x

x

x

       

x

 

Amor intelectualis (4)

 

x

     

x

       

x

x

Eisenach I (3)

     

x

         

x

x

 

Lindenbaum (3)

       

x

   

x

   

x

 

Der Bilsengott (3)

   

x

x

           

x

 

Inkarnation I (3)

       

x

   

x

   

x

 

1984
Gefangener Schwan (6)

Engel in Waffen (5)

     

x

x

x

       

x

x

Traumwind (4)

       

x

x

       

x

x

Der Schläfer (3)

         

x

   

x

 

x

 

Hermes I (3)

     

x

       

x

 

x

 

Symbole (3)

           

x

     

x

x

Zeitgedicht (3)

       

x

         

x

x

1988
Weckruf und Mohn (6)

Zueignung I (4)

     

x

 

x

       

x

x

Das Gnadenreich II (3)

     

x

           

x

x

Einhorn-Sonate (3)

     

x

           

x

x

Initialen (3)

     

x

       

x

 

x

 

Inkarnation II (3)

     

x

x

         

x

 

Weckruf und Mohn II (3)

     

x

   

x

     

x

 

1990
Der Seerosenritter (7)

Arcana (7)

     

x

x

x

x

 

x

x

 

x

Enkidus Tod (4)

     

x

 

x

       

x

x

Die Burg der Gefahren (3)

     

x

 

x

         

x

Die Seeschlange (3)

     

x

       

x

   

x

Die Steilküste (3)

     

x

       

x

   

x

Lanzelots Grab (3)

     

x

   

x

x

       

Der Haselstab-Eid (3)

         

x

 

x

     

x

1992
Der Weiße Falter (3)

Das Reisebuch (5)

     

x

x

x

       

x

x

Almandin (5)

x

       

x

   

x

 

x

x

Hohenwarte (3)

     

x

 

x

 

x

       

1993
Heliodromus (4)

Heliodromus (4)

     

x

 

x

x

       

x

Nadir (3)

     

x

           

x

x

Vier Blätter (3)

     

x

x

     

x

     

Würfelspiel (3)

     

x

 

x

         

x

1994
Traum von Atlantis (3)

Insel-Sonette (6)

x

   

x

 

x

     

x

x

x

Elysium (4)

       

x

     

x

 

x

x

Sirenen (3)

x

   

x

 

x

           



Tabelle 2: Gedichtauswahl und Indikatorenhäufung
Die in dieser Tabelle fett gedruckten Gedichte werden im folgenden Kapitel einer kurzen Analyse unterzogen. Die Auswahl genau dieser Werke erfolgte unter dem Gesichtspunkt der Veranschaulichung der in dieser Arbeit gestellten Thematik.
Da das Rezensieren von Literatur, speziell Lyrik, stark subjektiv ausgerichtet ist, soll an dieser Stelle lediglich erwähnt werden, daß die Dichtungen Lammlas einen großen Eindruck hinterlassen haben.


4. Religion und Mythos. Gedichtanalyse

Die sechs aus "Fliederblüten" ausgewählten Gedichte thematisieren in erster Linie die seelische Verfassung eines zweifelnden, suchenden und liebenden jungen Menschen. Wörter wie Gott, Götter und Engel drücken vor allem einen Seelenzustand, die Suche nach Hoffnung, aus und werden – auch in zweifelnden und anklagenden Metaphern – in der Tradition der romantischen Bildwelt verwendet. Interessant ist Lammlas Engelsbild in dem mit umschließendem Reimmaß gedichteten "Stunde vor Tag". Hier heißt es im letzten Versabschnitt:

Der Engel träumt. Sein Fliederblütenkranz
Bewahrt den Duft der Hand, die weinend flocht.
Und Blut in seiner weißen Schläfe pocht,
Die Geigen spielen auf zum letzten Tanz.

Und Brunnen randbeschneit in Stille warten,
Mit patriarchisch weißem Haar bekrönt.
Der Engel seiner tiefsten Neigung frönt:
Er träumt von Flieder, weiß wie Schnee im Garten.

Kein Wind stößt müde Luft aus ihrem Harren,
Die sich der Grubendunkelheit entwöhnt:
In Träume fallen Engel, fallen Narren.

Die Schwalbenbotschaft durch die Gärten tönt,
Und Augen, die nun aus den Dingen starren,
Sind kurz mit Gott und seiner Welt versöhnt.


Lammla verbindet hier Elemente der nordischen Mythologie um die Göttin Holla mit Symbolen der Blumensprache (Flieder steht für die romantische, unschuldige und junge Liebe), um den Engel als liebendes und zugleich leidendes Wesen zu charakterisieren. In einer alten Version des Frau-Holle-Märchens werden die weißen Blüten der Geschichte in Federn verwandelt und als Schnee auf die Erde geschüttelt. Sterbliche, die zur Göttin gelangen wollten, mußten zuerst durch einen Brunnen tauchen. Träumen wird als Flucht vor der Realität gemaßregelt, Engel mit Narren gleichgesetzt, nur um in den letzten Zeilen das Träumen als Möglichkeit darzustellen, sich mit "Gott und seiner Welt" zu versöhnen.
In dem Versopus "Hermes" (Gefangener Schwan) vermischt Lammla eigene Empfindungen und Erlebnisse mit Mythen um den griechischen Gott Hermes. Lyrische Andeutungen, Verschmelzung von Ebenen und prägnante Bilder weisen den Dichter zu einem Kenner und Verehrer der antiken griechischen Mythologie aus.

Bruchstücke von Hermeslegenden (Lohe und Leier, Würfelspiel, Federflaum) reihen sich in Beschreibungen eigener Empfindlichkeiten ein und geben den Zweifel an der Welt in eindrucksvollen Bildern wieder:

Wir gleichen lautlos eingefangnen Schwänen,
Die sich durch unsichtbare Gitter zwängen,
Die Stunden ziehn durch Müdigkeit und hängen,
Zerbrochnen Rudern gleich, aus morschen Kähnen.

Wir spielen Würfel und mit Drachenzähnen,
Und Haschisch soll die Düsternis verdrängen,
Wir pokern und wir tun, als ob wir sängen
In Trauer und mit kaum verhaltnen Tränen.

Wie unbewacht sind Harfe, Laute, Leier,
Wer weiß, ob dieser allerlängsten Feier
Ein derber Schalk nicht Requisiten tauscht?

Ob er nicht stolz und schadenfroh vernichtet,
Was sich schon lange satt hat und gerichtet,
Die Nächte, künstlich, welk und aufgebauscht.

Schon in seinen frühen Werken erkennt Lammla sein Talent, sprachliche Bilder mit Hilfe von vielschichtigen Symbolen heraufzubeschwören.
Diese von ihm selbst in einem Gedicht benannte "unverhüllte Sprache der Symbole" verleiht seinen Gedichten die Kraft und die Tiefe, die er selbst schon früh an den deutschen Schriftstellern des 19. und 20. Jahrhunderts bewunderte. Die Quellen, aus denen der den Symbolgehalt bezieht, sind vielfältig und seinem Interesse für jegliche Art von mythologischen Erzählungen und Legenden, das Alte und Neue Testament ausdrücklich mit eingeschlossen, als Teil der eigenen Geschichte geschuldet. So heißt es in demselben Gedicht ("Symbole"):

In allen Dingen ruht derselbe Glaube,
Der tiefer als das Leben in Figuren
Das Urbild wahrt

Lediglich die Fokusierung auf bestimmte Mythen unterscheidet die einzelnen Gedichtsammlungen voneinander. In seiner Jugend liegt der Schwerpunkt des Dichters eindeutig auf romantischen Themen und der antike Mythologie.
Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens jongliert Lammla mit Namen aus verschiedensten Legenden, und ist sich dessen sehr wohl bewußt:

Und keiner blieb, der deine Wege wies,
Apollon nicht und nicht der Elben Chor,

Doch all die Namen, die vertauschten, schnell
Verbrauchten, wenn der letzte Sand verrinnt,
Sie wurden eins in dir
(aus "Zueignung" in: Weckruf und Mohn" 1988)

Die Suche nach mythologischen und sprachgewaltigen Bildern gerät nicht immer: Wenn statt gefühlter Leidenschaft leidenschaftlicher Weltzorn heraufbeschworen wird und einem selbst auferlegten strengen Versmaß unterworfen werden müssen, klaffen Stil, Form und Inhalt auseinander, die Poesie des Uwe Lammla ist in diesen Fällen nicht mehr so ausdrucksstark. Die erzeugten Bilder wirken – auch den gewählten Haufen-Endreim – mitunter zu theatralisch, überzeugen nicht:

Geweihtes Wort, das bürgt für Hof und Heim
Gesellt den Waisen dem Planetenreim,
Daß die vom Blitz geschwärzte Eiche keim
Weckts Glauben als der Schöpfungsfrühe Seim.
Der Herr im Kyff, den feig die Raben flohn,
Kehrt wieder in Apuliens Oktagon,
Und setzt sich selbst als Morgenrot und Mohn.
(aus "Weckruf und Mohn" in: Weckruf und Mohn" 1988)

In "Enkidus Tod" (aus "Der Seerosenritter" 1990) beschäftigt sich Lammla mit der gleichnamigen mythischen Figur aus dem Gilgamesch-Epos, eine der ältesten überlieferten literarischen Dichtungen der Menschheit sowie das berühmteste literarische Werk Babyloniens. Enkidu, ursprünglich zum Zwecke der Zerstörung bzw. Kontrolle Gilgameschs geschaffen, wird später zu dessen Kampfgefährten und Begleiter, jedoch von den Göttern als Strafe für seine Beteiligung an der Tötung des Himmelsstieres mit einer tödlichen Krankheit belegt.
Lammla sieht Enkidu als Opfer der göttlichen Gewalten und beschreibt ihn lobpreisend mit

"… Schlangenmund, der Unterwerfung sprechen
Nie wird und selbst dem Gott entgegenzischt."
(aus: Enkidus Tod" in: "Der Seerosenritter"1990)

Enkidus Erschafferin, die auch Mutter aller Götter genannte sumerische "Aururu" gilt zugleich auch als Erschafferin der Menschheit und verschmilzt gegen Ende des langen Versepos mit dem lyrisches Ich, das sich als antipodischer Zwilling Ekidus begreift:

Ja, Zwilling dann, vernichteter Vernichter,
Wenn eine Welle uns beginnt, bedroht,
Ein Gott uns tauscht, ein Untergang-erpichter,
Hat dann das All nicht unsern Wechsel not?
So ist die Zeit auch eins nur der Gesichter
Der Freiheit, und das Spiel von Ich und Tod
Folgt unsern Regeln, und wir selbst sind Richter
Und Traum und Welt und Mohn und Morgenrot.
(aus: Enkidus Tod" in: "Der Seerosenritter"1990)

In der lyrischen Verarbeitung von Legenden beschränklt sich Lammla nicht allein in der Nacherzählung und Interpretation, er versucht zunehmend eine Brücke zu schlagen in die Gegenwart und seine Auffassung eines Gesellschafts- und Lebensentwurfes direkt an den Leser zu richten. Gegen Ende des durchgängig im Kreuzreim gereimten Gedichtes "Lanzelots Grab" (aus "Der Seerosenritter" 1990) heißt es:
>br> Drum soll dir nicht aus Pergamenten
Das Mittelalter auferstehn,
Im Echo und im Gott-Getrennten
Kannst du das Reich nur wahnhaft sehn,
Drum streife froh auf Au und Anger
Und find den Herrn in Wind und Quell,
Stellt dich der Teufel an den Pranger,
So weißt du, daß dein Auge hell.

Im Rückgriff auf Mythen zeichnet Lammla eine Idealwelt, in welcher er erstrebenswerte Verhalten- und Lebensweisen zu erkennen glaubt, denen es nachzueifern lohnt. Sowohl Erkenntnis als auch Gottesglauben könnte sich aus dieser Quelle und der Rückbesinnung auf traditionelle Überlieferungen gewinnen lassen.
Ein beeindruckendes Gedicht um die Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte und dem technischen Fortschrittsglauben auf Kosten der Natur ist das Gedicht "Hohenwarte" (aus "Der Weiße Falter" 1992) nach einem Fragment des auch in Lammlas Arnshaugk-Edition veröffentlichten siebenbürgisch-deutschen Schriftstellers Wolf von Aichelburg (1912-1994), der bei Schauprozeß gegen die deutsche Schriftstellergruppe im Jahre 1959 in Rumänien zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, aber nach fünf Jahren aufgrund einer Generalamnestie für politische Häftlinge freikam. 1980 siedelte von Aichelburg nach Freiburg im Breisgau über. Das lyrische Ich schaut in ein von Menschenhand zu einem Stausee verändertes, einst romantisches Tal du spricht mit einem, mit imaginären Wächtern, die als (auch) Unheil zulassende Götter interpretiert werden können.
Als reales Bild dient der von 1930 bis 1940 erbaute Hohenwarte-Stausee, für den 250 Menschen umgesiedelt und ein Dorf überflutet werden mußte. Die namensgebende alte Thüringer Ortschaft Hohenwarte wurde durch diesen Bau grundlegend verändert. Der Raubbau an der Natur, noch vor Lammlas Geburt begangen, wird als Gleichnis für politische Unterdrückung und Bevormundung benutzt, unter denen sowohl Lammla als auch Wolf von Aichelburg litten. Im Namen seines älteren Dichterkollegen rechnet Lammla mit dem Gesellschaftsentwurf Kommunismus und dem real erlebten Sozialismus ab und setzt der materiell orientierten eine Gott zugewandte geistliche Welt entgegen:

Wo sie vorbeikommen, wächst nicht das Korn,
Wo sie sich Platz schaffen, wuchtert die Wüste,
Steinhülle, Sandhölle, Staubspur und Dorn
Wachsen im Tal, das mich sonst hier begrüßte.

Wächter, sagt an, die dort drunten versorgt,
Will ihnen Brot ohne Segen noch munden,
Wissen sie nicht, daß die Erde uns borgt,
Ungestraft nie noch geschmäht und geschunden? -
Höre, sie nennen gerecht ihren Streit,
Was sie sich antun, Gesetz der Geschichte,
Höheres Menschtum, das Herkunft-befreit
Gottlos ein menschliches Weltreich errichte.
Aber ich seh sie in Reihe und Glied,
Peitschenknall ordnet den Zug der Vernichter,
Nur wer dem Wahn seine Wahrheit verriet,
Leidet nicht, aber die meisten Gesichter
Hungern, obwohl man den Hunger verbot,
Spüren die Fäulnis in Galle und Magen
(aus "Hohenwarte" in: "Der Weiße Falter" 1992)

Am Schluß des Gedichtes fordert der Dichter die von ihm angerufenen Wächter auf, nicht ihm selbst Antworten auf die gestellten Fragen zu geben, sondern zu den Menschen zu sprechen, er selber habe den Glauben verloren und wendet sich enttäuscht von der Welt (und den Göttern) ab. Trotz der eigenen Enttäuschung über die menschliche Welt – der Dichter Lammla ist keineswegs verbittert, sondern macht in seinen Versen Mut. In "Elysium" ("Traum von Atlantis" 1994) heißt es noch kraftvoll

Laß dich vom Kleinmut nirgendwo erweichen
Üb Großmut und obwalt als sanfter Scheider,
Bleibst du dir treu, versiegt das Gift der Neider…

Literaturverzeichnis

Wolff, Uwe (1991): Die Wiederkehr der Engel. Boten zwischen New Age, Dichtung und Theologie. In: Impulse Nr.32 Stuttgart II/1991, hrsg. v. Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen.
Ranke, Kurt (1981): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Band 3 Berlin ; New York : de Gruyter.
Uwe Lammla: Gefangener Schwan. Gedichte. 1990. 143 S. ISBN 3-926370-11-4. Ln.
Uwe Lammla: Weckruf und Mohn. Gedichte. 2. Aufl. 1991. 143 S. ISBN 3-926370-12-2. Ln.
Uwe Lammla: Traum von Atlantis. Gedichte. 1995. 175 S. ISBN 3-926370-27-0. Ln.

Max Bennewitz (2001)