Moderne Lyrik
Lyrik wird heutzutage meist als anstrengend emfunden. Daß ein Gedichtbuch informativ und spannend sein könnte, erwartet kaum jemand. Das "Jahr des Heils" von Uwe Lammla zeigt dem Leser sofort an, das der Autor nicht mit dem Gewohnten verwechselt werden will. Auf dem Cover sieht man Michael als Drachentöter in einer gotischen Kapelle, schon dies ist ungewöhnlich. Im Inhaltsverzeichnis liest man nicht nur Feste des Kirchenjahrs und diverse Heilige, sondern auch Titel wie "Christos Apollon", die eine ganz ungewohnte Spiritualität vermuten lassen. Die Texte selbst sind virtuos gereimt, jambisch, trochäisch, daktylisch, in zwei, drei, vier oder fünf Versfüßen. Aber es bleibt nicht bei der Orchestrierung. Die Themen sind provokativ und aufregend. Hier liest ein Fundamentalist die Leviten seinem Zeitalter und auch der Kirche, die, nach seiner Ansicht, immerfort vor den Machenschaften des Antichrists zurückgewichen ist. Gleichzeitig tritt er für eine Versöhnung von heidnischer und christlicher Spiritualität ein und bekennt seine große Sympathie für die Vorstellungen der Griechen und der Germanen. Das erinnert an Hölderlin.
Diese Buch kann kaum einen kaltlassen. Entweder hält man den Autor für verrückt oder für einen Prediger mit langem Atem und gutem Instinkt für die Nuance. In einem Interview fordert er dazu auf, "mit den Surrogaten der Moderne zu brechen". Ingesamt zehn Bücher hat er in kurzer Zeit auf den Markt geworfen, die Summe von dreißig Jahren im Verborgenen. Wie auch immer man zu den Ansichten des Autors stehen mag, an der Sprachgewalt und poetischen Vielfalt seiner Verse wird bald keiner mehr vorbeikommen, der sich mit Gegenwartsdichtung befaßt.Udo Niederhuber