Weckruf und Mohn
[1984]
[Anm.: Die hier besprochene Sammlung wurde später ergänzt und in "Gefangener Schwan" umbenannt, ist also nicht identisch mit der unter dem Titel "Weckruf und Mohn" gedruckten Sammlung.]
Uwe Lammla hat seine zweite Gedichtsammlung vorgelegt. Er präsentiert diese Gabe seinen Freunden, während er sich anschickt, das Land, in dem er aufwuchs, zu verlassen, westlicheren Gefilden zu, die vielleicht der Kunst nicht holder sind, in denen aber eine größere Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung besteht. Die Sammlung enthält die Quintessenz dessen, was Lammla in den letzten drei Jahren geschrieben hat, ein Ring ist geschlossen, im Leben wie im Werk, und es ist Zeit für mich, daß ich ein Wort zum Ruhme dieses Dichters spreche. Ich tue dies um so lieber, als die Anlässe zur Emphase immer seltener werden. Man ist verwöhnt durch die Verse der Großen Meister, man ist verwöhnt durch die Fügungen, die man selber fand. Und ich gehöre nicht zu jenen, die ihr wohlfeiles "Ecce poeta" über jedes Halb- und Dreiviertel-Talent ausrufen. Also schweige ich, wo es nichts zu huldigen gibt, denn mein Amt als Dichter ist im letzten nicht Kritik, sondern Verklärung. Im Reich des Apollon regiert nicht das Schwert, sondern die Gunst.
Lyriker in Deutschland, deren Stimme mich noch erreicht - ich kann sie an den Fingern einer Hand abzählen: Oda Schaefer, Helmut Bartuschek, Stephan Hermlin. Als vierter tritt jetzt Uwe Lammla hinzu, und dies ist Grund genug, ihm einen Lobspruch zu widmen.
Vor gut zwei Jahren, im November 1981, erhielt ich seine erste Sammlung: "Fliederblüten" - ein Titel, der, rein literarisch betrachtet, nicht sehr glücklich anmutet, der aber gleichwohl die Sache trifft. Auf dem Titelblatte fand sich der Vermerk: "Meinem Freunde Michael Schindhelm", als Geleitspruch war der Auswahl ein Zitat von Georg Trakl voangestellt: "Ein blühender Erguß verrinnt sehr sacht..." Widmung und Devise kennzeichnen die Dichtung als Liebeswerk. Und von Liebe, von Knabenliebe war denn auch deie Rede, von Hermes und Endymion, von Ganymed und Nerziß, manchmal in allzu-manirierten Satzgebilden, doch niemals ohne Maß und Takt. Was mir beim ersten Durchblättern auffiel, war die Gediegenheit, die marmorne Form, die gleichbleibende Höhe, auf der sich das ganze hält. Und es gab einige Glanz- und Prukstücke, in denen sich eine Begabung ersten Ranges verriet. Zwei Gedichte, die schon in den "Fliederblüten" standen, sind mir jetzt noch die liebsten: "Ganymedes" und "Inkarnation". Das letztgenannte ist an den Anfang gerückt. Was für ein Einsatz:
Ich trottete, von Sonnenlicht geblendet,
Auf zähem, aromatischem Asphalt...
Und weiter:
Die Nacht lag in der Sonne, sie besamte
Die Erde mit Verrat und dunkler Gier;
Gestaltloser Unendlichkeit umrahmte
In Wandlungen den Himmelshof der Stier.
Doch bald zerfiel das Bild aus Unterpfänden,
Zertrieb ein zwingendes Gefühl den Deich,
Fuhr wie ein Blitz aus grauen Wolkenwänden
Die Schönheit, blaß und sommerwarm zugleich.
Es ist die Stunde der Offenbarung. Ein Engel erscheint. Der Dichter begegnet sich selbst. Aber der Augenblick hat keine Dauer. Der Skarabäus kündet von Erwähltheit und Tod:
Oh - rief ich aus - die deine Art zu lieben:
Im Blütenkelch der Welt entrückt zu sein,
Im Löwenmaul des Eros gleich den Dieben
Des Himmels stehn. Du kennst die Antwort: Nein!
Ich zitiere nicht weiter. Man kennt es, und wer es nicht kennt, der wird es kennenlernen. Der hat es kennenzulernen. Es war für mich immer ein ziemlich untrügliches Kriterium für die Qualität eines Gedichtes, wie rasch es im Gedächtnis haften bleibt. Dieses wußte ich nach dem dritten Vorlesen auswendig. Es hat immerhin neun Strophen, und ich bin kein Gedächtnis-Künstler wie der selige Arno Schmidt. Sonst ist nicht viel zu sagen. Die Verse sprechen für sich. Es ist der alte Unterschied von Kunst und Gutgemeint. Lammla "hat" es eben, und tausend andere haben es nicht (werdens auch nie erjagen). Schon bei der ersten Lektüre schoß mir ein Spruch von Nietsche durch den Kopf, ein lustiger Kehrreim aus einem seiner Lieder, der nun doch als eine Art von "Ecce poeta" hier stehen möge:
Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter,
Achselzuckt der Vogel Specht.
Neben der "Inkarnation", ja, vielleicht noch darüber steht das Sonett vom Götter-Knaben Ganymed. Hier ist es noch einmal Sprache geworden, jenes "Verwundet hat mich, der mich erweckt": die erste Berührung durch den sanft-sehrenden, lächelnd-zerstörenden, flammend-befiederten Gott:
Die Wimpern fielen leicht, und seine Luft
Ging ruhig. Nichts verriet die schweren Klauen
Und nichts die leise, rauschzerklirrte Not.
Er redet in tausend Zungen, auch dieser Gott. In Uwe Lammla hat er eine neue Stimme gefunden. Es sind dies die Verse eines Zwanzigjährigen, und man möchte manchmal fast wünschen, er hätte nichts geschrieben als dieses Gedicht. Denn das kommt nicht wieder, und am wenigsten, wenn man es erzwingen will. Es ist die Stunde des Erwachens, Flaum und Morgentau, da sich knabenhafte Unschuld und überreifer Geist vermählen, um, gleichsam bewußtlos, das Vollkommene zu zeugen. Das kommt nicht wieder, nein. Doch die Verse stehen da, für jetzt und für je.
Anderes ist gekommen und wird kommen. Von den übrigen Gedichten will ich noch diese hervorheben: "Chrysanthemen", "Gefangener Schwan" und "Hyakinthos", drei Sonette, die an Geschliffenheit mit "Ganymedes" wetteifern, das mir zugeeignete "Gnaden-Reich", dessen erste Strophe schlichtweg unübertrefflich ist, "Orpheus", schlanke Klage in vergleichsweise anspruchslosen Metren, die ferneren Dedikationen "Zeitgedicht" und "Engel in Waffen" (auch wenn es da Stilbrüche gibt) und vor allem das Gedicht "Weckruf und Mohn", das in archaische Welten führt: Geraun, Gelall, "Stäbe, blank, bleiern", Rabengeschwader und der "drängende Welt-Dorn" - man könnte glauben, "Schwertzeit" habe hier als Modell gedient, aber Uwe Lammla kannte meinen Abgesang noch nicht, als er den seinen schuf.
Da ich sein entschiedenster Lober bin, habe ich auch das Recht, ihn zu tadeln (ein Recht, das ich so rasch keinem anderen zugestehe). Zwei Gefahren bedrohen einen Dichter seiner Art: die Routine und die Manier. Wer so viel kann wie Lammla, gerät in Versuchung, manches allzueilfertig hinzuschreiben, Harrsches zu glätten, das treffende Bild dem üppigen Wohlklang zu opfern. So bietet die Auswahl einige ältere Gedichte in Neufassungen, die nicht immer überzeugen können. Die Gedichte sind jetzt "fertiger", ohne vollendet zu sein. Die "unerlaubt empfindenden Naturen", man vermißt sie ungern, und auch die Schlußzeile des "Hyakinthos": "Da rings Gelall entflammten Hag durchflutet" ist durch den matten Vers ersetzt: "Und die Verklärung seinen Hag durchflutet." Auch anderes klingt nicht besser, sondern nur professioneller in der neuen Gestalt. Gewiß, irgendwann ist es nötig, sein Werk in die Welt zu entlassen, man kann nicht ewig feilen, unsere Zeit ist begrenzt. Aber ein Dichter wie Lammla, dessen Mitgift nicht die Fülle, sondern die Vollkommenheit ist, sollte doch mehr Sorgfalt bezeigen, wenn es gilt, letzte Hand an ein Werk zu legen. In winwm Buch von tausend Seiten sind Nachlässigkeiten zu verschmerzen, auch gar nicht zu vermeiden: in einem Sonett muß alles stimmen bis auf das letzte Wort.
Ein anderes sind die Manierismen, die manchmal entzückend sind, manchmal aber auch die Satzkonstruktion regelrecht zum Scheitern bringen. Ich habe schon, anläßlich von Platen und George darüber nachgedacht, ob es so etwas wie einen "schwulen Stil" in der Kunst gibt. Sicherlich ist Lammla im Gestus diesen Dichtern verwandt. Er hält sich streng im Versmaß, er durchbricht niemals das selbstgewählte Gesetz. Das eiseren Korsett der Form, die steile Gebärde, die enigmatische Struktur - der Dichter liefert im "Ganymedes" selbst eine Formel dafür:
Der Himmel lag mit leicht verkrampftem Schauen
Und phallischer Begier in dunklem Rot...
Ich würde vielleicht nicht so viel Aufhebens von diesen Gedichten machen, wenn dies nicht auch ein willkommener Anlaß wäre, von mir zu reden, oder, um ein Wort Schillers über Hölderlin anzuwenden: "Aufrichtig, es ist nicht das erstemal, daß mich der Verfasser an mich mahnte." Der Autor der "Inkarnation" ist mein Freund und legitimer Erbe, der Titel des Gedichtes stammt von mir, so wie es auch einen "Ganymed" von mir gibt, den ich, sonderbar genug, im selben Lebensalter schrieb wie Lammla den seinen (und auch dies, doppelt sonderbar, ha er nicht vorher gewußt). Darum erlaube ich mir, hier ein paar persönliche Reminiszenzen einzuflechten:
Ich lernte Uwe Lammla im August 1981 in Röcken kennen. Wir hatten uns, wie alljährlich um diese Zeit, am Grabe Friedrich Nietzsches versammelt, und ich trug dem Freundeskreis "Gestalt und Lebenszeit" vor. Am anderen Vormittag, es war in Burgau, kamen wir ins Gespräch. Eine Dame fragte mich, wie es denn gekommen sei, daß ich mit dreizehn, vierzehn Jahren so viel gelesen und geschrieben hätte, und noch ehe ich erwidern konnte, fiel mir Lammla ins Wort und gab, gleichermaßen aus meinem Geist und seiner eigenen Erfahrung heraus, eine Antwort, wie sie treffender nicht hätte sein können. Wir verließen dann die Gesellschaft und traten auf den Hof hinaus, wo sich ein längerer Dialog entspann. Lammla schilderte mir in hoher Heiterkeit bedenklichste Vorfälle aus seiner Militärzeit, die in Erfurt begann und in der Irrenanstalt Pfafferode ihr vorfristiges Ende fand. Alsdann kamen wir auf das Thema der geistigen Frühreife zurück: Beide bekannten wir übereinstimmend, keinen Lehrer oder Mentor gehabt zu haben, der uns irgendwelche Lektüre empfohlen hatte, auch fanden wir, daß ein kultiviertes Elternhaus dem Talent nur hinderlich sei, wie denn die Kinder berühmter Dichter meist unglücklich entdeten und überhaupt in Deutschland, nach einem Worte Richard Wagners, nur "der Winkel" produktiv war; kein Genie kam aus Berlin, viele aus der Provinz, von Luther bis Marx, von Novalis bis Nietzsche. An dieser Stelle der Unterhaltung fallen mir gewöhnlich zwei Zitate ein, eins von Stephan Hermlin und eins von Gottfried Benn. Hermlin beschreibt in seinen Erinnerungen das Zimmer "mit den beiden Gainsboroughs", in dem er als Kind aus und ein ging, ein Gedicht von Benn hebt an mit der Zeile: "In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs." Nicht zuletzt darum hat es der Dichter Benn weiter gebracht als der Schöngeist Hermlin.
Auch in Uwe Lammlas Elternhaus hängen keine Gainsboroughs. Er kommt aus einer Kleinstadt: einer der vielen Neustädte, seine liegt an der Orla, einem thüringischen Flüßchen, das sich vor Kahla mit der Saale vereinigt. Dort wohnt er auf dem Arnshaugk, dem Adlerhorst (oder vielmehr hat er gewohnt, denn er hat München zu seinem künftigen Wohnsitz erkoren). Ich habe die Gegend zwischen Neustadt und Ziegenrück während einer langen Wanderung im Juli 1982 kennengelernt, zu der Lammla einen akribischen Plan entworfen hatte. In der Brust dieses Dichters wohnt auch eine Buchhalter- und Krämerseele, die sich in endlosen Aufstellungen, Listen, Dienstplänen und Abrechnungen gefällt. Ich wüßte, falls er mich überlebt, keinen besseren Nachlaßverwalter als ihn.
Im Rückblick erscheint mit jene erste Begegnung als schicksalhaft. Goethe sagt: "Die schönste Metempsychose ist die, wenn wir uns im anderen wieder auftreten sehen." Ich hatte mich gerade mit "Gestalt und Lebenszeit" in neue, klassisch-arkadische Sphären begaben. Hier war er angetreten, der Kronprinz, der romantische Erbe der frühen Himmel, die ich eben verließ. Es ist nicht zu übersehen: Lammlas "Fliederblüten" haben mit "Scharlach und Schwan" mehr gemein als mit irgendeinem anderen Buch, und "Weckruf und Mohn" stellt in vielem ein Pendant zu "Ariel" dar. Gleichwohl will ich Lammla als Auserwählten, als dichterische Gestalt aufs entschiedenste von meinen Epigonen abgrenzen. Man erlebt ja die ulkigsten Dinge im Laufe der Jahre, und oft schon hatte ich Gelegenheit, mit Nietzsche zu sagen: Ich wußte nicht, wie reich ich bin, bis ich sah, was für reiche Menschen noch zum Diebe an mir wurden.- So ist es hier nicht gemeint. Lammla ist ein geborener Dichter, und er geht seinen Weg. Erst die Zeit wird endgültig erweisen, wie er zu mir steht. Zehn Jahre bin ich älter als er: Schiller und Hölderlin, ich nannte sie schon, bieten sich zum Vergleich. Viele stellen Hölderlin höher, aber mir wäre die Parallele gar nicht so unrecht. Ich schätze Schillers Gedichte sehr, nicht nur die "Nänie" und das "Glück", sondern auch das "Lied von der Glocke", und was wären Hölderlin und Novalis ohne die "Götter Griechenlands"? Aber: zehn Jahre - diese Frist trennt nicht nur Schiller von Hölderlin, sondern auch Nietzsche von Peter Gast, seinem ersten Adepten und Abschreiber. Nun, ich kenne Gasts Kompositionen nicht, aber ich kenne Lammlas Gedichte, und ich weiß, daß sie, bei aller zeitweiligen Verfallenheit an seinen Meister, ein Ungeschiedenes besitzen, eine Beziehung zum Elementaren, ein Arsenal an Bildern und Kunstgriffen, das diesem Dichter allein angehört. Vieles mochte unausgereift sein, manches nachgeahmt, aber eines war da von Anbeginn: die Gestalt. Sein Vers besitzt jenen Hauch, jenes Lammla-Flair, das ihn unverwechselbar macht. Er zahlt nicht mit geborgter Münze. Er schöpft aus dem Quell.
Die Gestalt als Schlüssel. Hier zeigt sich , daß unsere Gemeinsamkeit letztlich im Äußerlichen liegen, in der Hekunft aus der Mitte der Mitten, aus dem Herzen Deutschlands und Europas, in der Tradition, die sich mit den Namen Goethe, Schopenhauer, Wagner und Nietzsche verbindet, in gewissen formalen Mitteln, die wir bevorzugen, und - last not least - in den angebornen Verdiensten, die jeder Begnadete hat. Als Gestalten sind wir eher Gegensätze: Ich bin Widder, er ist Wassermann, milchweiß und blond, zur Leibesfülle neigend. Ein Odem von Nestwärme, von Weiblich-Mütterlichem geht von ihm aus. Nicht zur Herrschaft, zur Hingabe scheint er geschaffen. Auf diesem Körper freilich sitzt ein Haupt, das wie ein Atavismus aus deutscher Vorzeit anmutet: Vorspringendes Kinn, große Nase, der Schädel mächtig nach hinten gewölbt. So sahen die Mannen Florian Geyers aus, verwegene Gesellen, Engel der Apokalypse, das kurze krumme Schwert in der Faust. Dürer hätte ihn in Holz geschnitten - mich hätte er im Kupferstich verewigt. Die Augen unbedeutend, verkniffen, wie bei Richard Wagner, er ist ein Ohrenmensch: das zeigt die Schädelform. Ich habe von ihm nie ein Wort über Bildende Kunst gehört. Ist er schön? Eigentlich gar nicht. Aber er wird es auf sonderbare Art, wenn er seine Gedichte rezitiert. Er schließt die Augen dabei und lehnt den Kopf zurück. Er tritt hinüber, er ist entrückt. In solchen Augenblicken wird er Ganymed, wird er Narziß, Anmut und Adel verklären sein Antlitz, und, diesen rührenden Zug will ich nicht unerwähnt lassen: Wenn er ganz trunken ist von Versen und Glück, so verdoppeln sich gleichsam seine Lippen, der üppige Mund wird zur schwellenden Frucht, von der ein Gott die reife Gabe pflückt. Rücksichten auf seine Zuhörer kennt Lammla nicht. So ist es recht. Unbekannte, die ihn hörten, meinten, sie hätten zwar nichts verstanden, aber es klänge ganz gut. Wahrscheinlich hielten sie ihn für närrisch. Das ist auch eins unserer Ur-Erlebnisse: das des Zarathustr, der dem Volke seinen Übermenschen verkündigt und alsbald erkennen muß: "Ich bin nicht der Mund für diese Ohren." Und erst als er ihnen vom Verächtlichsten spricht, vom letzten Menschen, da jauchzt alles Volk: "Gib uns deinen letzten Menschen, o Zarathustra, so schenken wir dir den Übermenschen." Im übrigen hat die Unverständlichkeit ihr Gutes: Ein Zöllner, als er Lammlas Manuskripte überprüfte, blickte nicht anders hinein als ein Analphabet in die Fibel. Mallarmé wünschte sich Verse von solcher Magie, daß sie jedem Ungeweihten tödlich wären, der sie vernimmt. Lammla ist gelernter Chemiker, er hat als Knabe gern mit Sprengstoff hantiert. Seine Gedichte sind zwar ohne tagespolitische Brisanz, doch es gibt eine geistige Sprengkraft anderen, höheren Grades, nicht fern von jeder Magie, die der französische Dichterkönig beschwor.
Lammla, der ätherische Träumer, ist zugleich ganz diesseitig-wirklich veranlagt, nichts Menschliches ist ihm fremd. Ich habe ihn im Überschwang und im Elend erlebt, aber seine Gefärdungen sind irdischer, nicht metaphysischer Art. Er lebt in der höheren Heiterkeit der Gezeichneten. Schopenhauer nennt dies, mit Jean Paul, die "geniale Besonnenheit": Über dem Chaos des Weltgetriebes steht, sonder Wank und Fehl, der Dichter in seinem Jenseits. Er bringt den reinen Ertrag des Daseins ein. Er stiftet, was bleibt.
Vielleicht habe ich Uwe Lammla zuviel Ehre erwiesen. Aber er ist ein Dichter, ein Gefährte: der erste, der einzige. Er hat vom Blut getrunken. Und jeder Dichter ist der Dichter überhaupt. Der wiedererstandene Orpheus. Wenn wir jenen preisen, ist immer auch dieser gemeint.
Was kommen wird? Ich weiß es nicht. Es gibt nichts Ungewisseres als die Zukunft eines Dichters. Es ist ein Abenteuer ohnegleichen, und niemand weiß, wohin die Reise geht.
Ich habe Lammla einmal, halb im Scherz (aber selbstz in unseren Scherzen geht es auf Leben und Tod), unter die Hermes-Gestalten eingereiht und gesagt, er hätte mit 21 sterben sollen, im Oktober 1981, nach "Ganymed" und "Inkarnation". Er hat es nicht getan und in den beiden Jahren seither schöne Dinge gemacht. Freilich, die Zeichen einer Krisis sind nicht zu verkennen. Wir sind berechtigt, von einem Dichter solcher Begabung mehr und Höheres zu verlangen, als er im letzten Jahr geboten hat: Nach dem Klassischen der "Inkarnation", und dem Archaischen von "Weckruf und Mohn" den dritten Stil, der noch nicht gefunden ist den Stil des Wassermanns, um es in eine Formel zu bringen. Vielleicht findet Lammla sein Arkadien an den neuen Ufern, zu denen er jetzt aufbricht: Er hat Verwandte in Italien, er wird im Sommer dort sein, und ahc Hellas liegt nicht mehr fern, so daß vielleicht in jenen sonnigeren Zonen die Worte des Proteus aus der Klassischen Walpurgisnacht an ihm sich erfüllen:
In dieser Lebensfeuchte
Erglänzt erst deine Leuchte
Mit herrlichem Getön.
Und ich bin Narziß genug, um den Versen des Dichterfürsten hier noch jene Strophe aus der "Stunde des Widders" anzufügen, die Lammla selber trunken sang, als wir von der Hunrods-Eiche kamen und er sich anschickte, den Schnee-Cardinal zu verspeisen:
Stunde des Wassermanns: Lethegerausch,
Sang über wankenden Gründen,
Alles ist Wiederkehr, alles ist Tausch,
Ewig Verlieren und Finden,
Wolkenhoch trägt uns die Welle,
Sterntraumgeboren dein Blut,
Wogensturz, Heimkehr zur Quelle,
Ziel, das im Nirgendwo ruht,
Stunde des Wassermanns: Lethegerausch,
Wiegenlied, wallende Flut.
Der Dichter Lammla als Wassermann: Dies ist meine Deutung seiner Gestalt. Mag sein, daß er sie verwerfen muß, um ganz Er selbst zu werden. Von allen berühmten Jüngerschaften wurde ja eine noch nicht genannt: die Nietzsches zu Wagner. Wer weiß ... Für mich bleibt er, jenseits von allem künftigen Wohl und Wehe, der Gefährte: der erste, der einzige. Er ist einer der Ritter vom Goldenen Vlies, einer der Boten des Geheimen Grals, dem wir alle verschworen sind. Sein Wappen: ein weißer Schwan auf blauem Grund. Blau: die Farbe der Treue. Zwar der Dichter steht jenseits von Gut und Böse, im Elementaren, wo nur die Norne webt. Aber die Treue ist ja kein moralischer Wert. Sie wurzelt, wie die Liebe, in einem tieferen Bereich.
Ich habe mein Liebeswerk an Uwe Lammla getan, ich spreche ihn los. Er darf gehen, wohin er muß. Es gibt so manchen Anlaß, in dieser Stunde an Goethes "Seefahrt" zu erinnern. Aber Lammla selber hat sich Geleit und Verheißung gegeben: Jenes Narziß-Wort, das er an Thomas Roßbach richtete, trifft, Spiegel und Echo, am Ende ihn selbst:
Bist du zum Ganzen geworden,
Neigt sich zum Ganzen die Fracht,
Führt dich der samt-schwarze Orden
Heim in das Haus deiner Nacht.
Rolf Schilling (1984)