Die Natur in der Dichtung von Uwe Lammla

Die belebte Natur hat Uwe Lammla schon in seinen Anfängen als Dichter inspiriert. In seinen frühen Gedichtsammlungen fallen Sonette wie »Quastenflosser«, »Nautilus« oder »Quendel« auf, die bereits eine passionierte Naturbeobachtung verraten. Im »Seerosenritter« wird die Seerose zum zertralen Symbol, nicht nur in ihren mythischen Bezügen, sondern auch in ihrer natürlichen Erscheinung. Im »Weißen Falter» dominieren Duftpflanzen und Faltergedichte: Jasmin, Flieder, Amaryllis, Postillon, Goldene Acht, Atlasspinner, Distelfalter. Eine neue Stufe erreicht der Autor im »Idäischen Licht«, wo dezidiert die Pflanzenwelt Kretas bedichtet wird: Rosmarin, Diptamdost, Oregano, Wunderbaum, Oleander, Tamariske, Olive, Johannisbrotbaum, Wein und die Steineiche. Im »Tannhäuserland« steht ein ganzer Gedichtkreis zu Obstbäumen, gefolgt von Tier- und Pflanzenbeobachtungen auf Wanderungen, wobei dem Hainich, der Goldenen Aue und dem Altenburger Land eine Schlüsselrolle zukommen. Dies setzt sich auch in seinen Büchern zu Ostfriesland und Schlesien fort. Es entsteht eine Mannigfaltigkeit naturbezogener Themen, die wohl ihresgleichen sucht.
Immer wieder stößt der Leser auf einen höchst anregenden Mikrokosmos eines Dichters, der sowohl die Gabe der Naturbeobachtung als auch die Gabe zur poetischen Verdichtung seiner Eindrücke in hohem Maße besitzt. Die Häufung von Charakterbildern ungewöhnlicher Objekte wird daher kaum einen Leser unberührt lassen. Die klassische Formvollendung, Lammlas Meisterschaft in der reimenden Dichtkunst, treibt die schönsten Blüten und Früchte. Seine Einfühlung in die Natur spricht aus allen Zeilen. Wer je das Vergnügen hatte, mit dem Autor wandernd die Natur zu durchstreifen, weiß, wie oft Lammla, den Gang unterbrechend, innehält, seinen dichterischen Blick auf subtile Beobachtungen lenkt und sie mit seiner Reimsprache verbindet.
Gerade im Hinblick auf die heutige Naturzerstörung muß festgestellt werden, daß Lammlas Naturdichtung kein Abgesang oder eine Reminiszenz an schönere Zeiten, die unsere Natur gesehen hat, ist, sondern einen Hoffnungskeim trägt, ein zartes Pflänzchen entfaltet. Es geht dabei nicht um eine vermenschlichte Natur oder um Motive, die eine Staffage unserer Gefühlswelt sind, sondern um die Einbettung des Naturhaften in den als genuin-ursprünglich erfaßten Gesamtkosmos. Boten der Götterwelt sind darin die vielfältigen Erscheinungen der Natur, welche, sofern wir uns dem nicht verschließen, überall zutagetreten. Hier lebt die alte germanische Auffassung der beseelten, ja göttertragenden Natur, besonders der Bäume, weiter. Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß viele seiner vorgelegten Gedichte Bäumen gewidmet sind.
Autobiographisches flicht sich in diese Werke ein, vor allem Kindheitserinnerung. So vermählen sich Ausblick und Rückschau, Besinnung und Sendung. Wo Lammla die Gärten und Paradiese seiner Kindheit anruft, erscheinen diese ganz im Brentanoschen Sinne »Du giengst in den Jugendgarten,| wolltest nach den Blumen sehn |Die Du kindisch einst gepflanzet,|Die in Gottes Sonne stehn.« Und Lammla, der in Mitteldeutschland aufgewachsen ist, bleibt stets ein sehr genauer Beobachter insbesondere der kleinen Veränderungen der ihn umgebenden Landschaft. Die Anrufung des autobiographischen Moments in seiner Dichtung ist daher auch Mahnung an eine Zeit, die allzu leichtfertig das kostbare Gut, das er in seiner Kindheit erfahren konnte, dem sich rasant drehenden Fortschrittsrad zu opfern bereit ist.
Hingabe und Liebe zur Natur prägen das dichterische Werk. Uwe Lammla, der seinem Zeitalter gegenüber fundamental-kritisch eingestellt ist und dessen Motive auch in dem Willen fußen, in unserer Zeit einen Gegenentwurf zum Unisono der materialistischen Moderne anzubieten, findet in der Betrachtung der Natur zu einem Ton, der die heilende Wirkung der Natur auf den Menschen unterstreicht. Nicht dient die Natur oder dienen die der Natur entlehnten Topoi der verstärkenden Darstellung menschlicher Gefühle, (wie z.B. die Rose dies in vielen Liebesgedichten oft darstellt), sondern die Entitäten, die er besingt, bleiben als solche gewürdigt und werden durch die Brechung in seiner Optik für den Leser verdichtet. Die Bilder, die er verwendet, geben ein deutliches Zeugnis ab. So hebt er an »Unter der Linden versprochen|Ward uns das Reich und der Mehrer,|Und bis der Bannstrahl gebrochen,|Singst du als Wahrer und Lehrer.« In einer Welt der Flußbegradigungen, in welcher auch bis anhin für unantastbar gehaltene Refugien nicht mehr geschont werden, rühren diese Gedichte den besorgten Leser daher besonders an. Wer glaubt, die Moderne sei in ihrer Maßlosigkeit hinzunehmen und da meinte, der Naturverbrauch sei nur ein vorübergehender Kollateralschaden des menschlichen Fortschritts, sollte sein Erleben wieder mit der lebensspendenden Natur erneuern. Lammlas Dichtung mag ihm auf diesem Weg ein Leitstern sein. Indem Lammla die Welt Eichendorffs, Stifters und anderer Naturdichter in neuem Gewande und in unserer technologisch-geprägten Zeit aufleben läßt, gibt er zu erahnen, welcher Schatz hier verschüttet liegt.
Viele der Gedichte zeugen nicht nur von Lammlas Beobachtungsgabe, sondern auch von solider Kenntnis der Materie, über die er schreibt. Ohne diese Kenntnis wäre es ihm nicht möglich, solch treffende Kurzportraits von Pflanzen wie Diptam-Dost (Dictamnus albus), Oleander oder Wunderbaum (Ricinus communis) zu erstellen. Hier verdichtet sich die Beobachtung aufs innigste mit der Kenntnis der Besonderheiten einer Pflanze, wenn er z.B. wie im Gedicht »Oleander«, diese für das Herz höchst giftige Pflanze treffend bedichtet: »Weich wie Ziegenleder faßt|sich das Blatt, das bitter schmeckt,|Wenig lädts zu Fraß und Mast, |Dran schon bald das Herz verreckt.«
Die Natur und insbesondere Pflanzen und Tiere sind ein ewiger Quell der Inspiration für Dichtung. Es gab keine ernstzunehmende Epoche der Literatur, die nicht daran ihr Maß genommen hat und die großen Dichter haben sich vielfältigen Naturthemen zugewandt. Der moderne Mensch, der ohne Dichtung und Naturbeobachtung auszukommen glaubt, befindet sich in einem Irrtum. Lammla legt hier den Finger auf die Wunde: Hat er in frühen Gedichtkreisen Eros und Ares bedichtet, werden in den jüngeren Eiche und Hasel besungen. Mögen dem Leser bei der Lektüre die Bilder aufscheinen, die Lammla in seiner Dichtung evoziert und ihm verhelfen, den versiegten Quell wieder zu entdecken.
Die beobachtenden Wissenschaften, voran Botanik und Zoologie, deren einstmals festgefügte Stellung im Konzert der Wissenschaften heute mehr und mehr in Frage gestellt wird, haben seit altersher in einer gewissen Nähe zur Dichtung gestanden. Umsomehr gilt dies für viele Dichter und Schriftsteller, die ein klares Bekenntnis zur nicht nur dilettantischen Beschäftigung mit der Natur abgaben. Um ein paar Beispiele zu nennen: Goethe war hierin mehr als nur Naturbeobachter und Morphologe, Adalbert von Chamissos Name hat als Epitheton einer Arnika-Art Eingang in die Botanik gefunden, Vladimir Nabokov war ein anerkannter Lepidopterologe und Ernst Jünger legt mit »Subtile Jagden« ein passioniertes Zeugnis für die Koinzidenz von Naturkunde und Literatur ab. Auch an die Naturlyriker des letzten Jahrhunderts sei in diesem Zusammenhang gedacht. Sie begannen Tiere und Pflanzen konkret im Gedicht zu beschreiben und benennen und entfernten sich damit von der romanti-schen Anthropozentrik. Zahlreiche Gedichte Lammlas würdigen die Tradition, die mit den Namen Oskar Loerke, Günter Eich, Peter Huchel, Wilhelm Lehmann, Horst Lange, Oda Schaefer, Helmut Bartuschek, Rolf Schilling, Uwe Nolte und Uwe Haubenreißer verbunden ist. Dabei erweitert Lammla den vorgefundenen Kanon beträchtlich und entwickelt eine unverwechselbare Symbolkraft.
Im Küsten-Triptychon Queller-Andel-Rotschwingel, das mit der Sammlung »Engelke up de Muer« in einen größeren landschaftlichen und geistigen Rahmen eingebettet ist, entwirft Uwe Lammla ein Portrait des kargen Lebens im Watt und im Spülsaum der Meeresküste. Schon die Auswahl der Themen zeigt die Unabhängigkeit Lammlas von den Gemeinplätzen der Dichtung. Nicht der Rose oder der Lilie werden Lieder gesungen, nein, es werden wackere Pionierpflanzen bedichtet und von dichterischer Warte aus beleuchtet, als wolle Lammla uns zeigen, wie ernst er auch diese Lebensformen nimmt und wie er sie zu würdigen weiß. Der Queller, der Pionier unter den halophilen Gewächsen, der sich im Spülsaum des Meeres am wohlsten fühlt, steht auch für eine Existenz als Eremit, Andel und Rotschwingel verweisen auf den Übergang zum Land. Nicht romantische Erfahrung oder Überhöhung machen diese Pflanzen »reif« für die Dichtung, dennoch weisen die Topoi, derer sich Lammla bedient, weit über das rein pflanzlich-physiologische hinaus. So sagt er: »Daß Aster, Dreizack, Sode|Gedeihn, machst du gewiß,|Und segnen darf der Gode|Die Frucht der Finsternis.« Oder im »Rotschwingel«: »Meer hüllt uns ein,|Gott weiß allein,|Ob es uns trägt|Oder zerschlägt.«
Uwe Lammla, dem auch chemisches Fachwissen nicht fremd ist, verweist in vielen seiner Pflanzengedichte auf die chemisch-stoffliche Seite, die oft untrennbar mit der Erscheinung einer Pflanze verbunden ist. Da ist vom Dictamnin die Rede, das genutzt werde, um den Geist aufzuhellen oder vom Alkaloid des Jelängerjelieber. Der Name Jelängerjelieber (eigentlich Lonicera caprifolium), wurde übrigens früher vielfach auch für andere Pflanzen verwendet, etwa für Veilchen oder Vergißmeinnicht. Es war »in der Blumensprache des Mittelalters als Symbol des anhaltenden Genusses oder auch der Dauer und Beständigkeit angesehen« (Grimm).
Hilfreich zum Verständnis einiger Gedichte mögen dem Leser noch folgende Hinweise sein. »Querfeldein« nimmt bezug auf die oft bei tropischen Pflanzen anzutreffende Exponiertheit rot gefärbter Blüten, die als »Vogel-blumen« von Vögeln, also Kolibris (Neue Welt) oder Nektarvögeln (Alte Welt), bestäubt werden. In »Immergrün« liegt die feine Beobachtung zu Grunde, daß die ursprünglich nicht einheimische Pflanze (Vinca minor) gerne als Siedlungszeiger oder wie die Botaniker sagen, als »Burggartenflüchtling« von der Existenz längst vergangener Gärten und menschlicher Behausungen zeugt: »Wo ein Menschenwerk versiecht,|Kündest du in Hain und Au.«
Lammlas Verbundenheit mit der Botanik, der scientia amabilis hat der Verfasser dieses Aufsatzes vielfach selbst erfahren können. Die bei Lammla wohl einzigartige Vielfalt der naturentlehnten Themen wird nie um ihrer selbst willen angerufen. So mannigfach die Natur dem Dichter entgegentritt, so reich gibt er sie in seinen Versen an den Leser weiter. Dabei enthüllt Lammla in jedem Gedichtband seine Meisterschaft des gereimten Wortes. Viele von Uwe Lammlas Gedichten weisen eine fast volksliedhafte Leichtigkeit auf und gehen unmittelbar zu Herzen. Anders als die Kosmik von »Weckruf und Mohn« sind die Naturgedichte weniger der hermetischen Dichtung verschrieben, jedoch finden sich einige Berührungspunkte, etwa in »Lotophagen« und »Nautilus«. Gleichwohl versteht sich Lammla mit jedem Werk als ein Dichter, der in der Tradition Eichendorffs, Uhlands und Brentanos steht, welche die unmittelbare Eingängigkeit des Volksliedes schätzten und über das Gelehrtenhafte zu stellen wußten.
Auch die Tierwelt wird von Uwe Lammla eines aufmerksamen Dichterblickes bedacht. Nicht, daß schlicht der Löwe, der Adler oder das Roß bedichtet würden, sondern Geschöpfe, die man zunächst nicht in einem Gedichtband vermuten wird: Grauwürger, Dasselfliege und schließlich Reitters Strunk-Saftkäfer. In diesem letzteren Gedicht wird der Leser entführt in die überaus reiche Welt der Käfer, jener Tiergruppe, die unseren Planeten in der größten Artenfülle an Lebewesen bevölkert. Wer denkt da nicht an Rösel von Rosenhofs »Insektenbelustigungen« und wiederum an Ernst Jüngers Liebe zu den »subtilen Jagden«? Auch zoologische Fachausdrücke fließen ganz natürlich in diese Dichtung ein und bereichern diese, schlagen uns doch so schöne Begriffe wie »Elytren-Kleid« entgegen. Fachsprache mischt sich ohne viel Aufhebens in die Dichtung in einem Ansatz von Kommensurabilität von Dichtersprache und wissenschaftlicher Fachsprache.
Der große Schweizer Naturgelehrte und Dichter des 18. Jahrhunderts Albrecht von Haller sagt: »Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist«. Diese Worte könnten auch für Lammlas Dichtung gelten, der mit seiner Poesie sich nicht anheischig machen will, letztgültige Wahrheiten den Dingen abzuringen. Vieles in seinen Gedichten bleibt daher Schau, Andeutung und Bewunderung. Lammla ist zutiefst davon überzeugt, daß unsere heillose Welt nur durch die Erfahrung und Wiederentdeckung der Schönheit verbessert und vielleicht dereinst gar gerettet werden kann. In einer Welt, die durch die Moderne und die Fratze der häßlichsten materialistischen Auswüchse geprägt ist, wirkt Lammlas Naturlyrik indes wie eine zarte Pflanze. Die Hoffnung, diesen Prozeß der Entseelung doch eines Tages zum Umkehren zu bringen und den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Schöpfung zu stellen, bildet ein großes Motiv für den Dichter Lammla. Möge seine Dichtung dazu beitragen, zurückzufinden in eine beseelte Welt und ein Menschenbild, das über das materiell-organische hinausweist.

Dr. Wolfgang Schühly